Silfra

Silfra

Städtische Galerie Eichenmüllerhaus
Lemgo, Germany
14.02.21 – 14.03.21

Einleitung: Nele Kaczmarek
Fotos: Hannah Jung
Video: Sebastian Herrmann

Silfra, der Titel der Ausstellung, kommt aus dem Isländischen und bedeutet Silberfrau. Er bezieht sich auf das topografische Gebiet der Silfra-Spalte in Island und ist auch der Titel einer Reihe von Gemälden aus dem Jahr 2020.

Über die Ausstellung-

Text: Nele Kaczmarek

Ein Ereignis zu notieren, ist wie ein flüchtiger Blick, wie ein Fragment der Zeit. Welchen Tag haben wir? Spielt es eine Rolle? Das Land existiert ohnedies seit viel längerer Zeit. Welches Jahr haben wir? Spielt es eine Rolle? Das Land existiert ohnedies seit viel längerer Zeit. Welches Jahrhundert haben wir? Spielt es eine Rolle? Das Land existiert ohnedies seit viel längerer Zeit. Welches Jahrtausend haben wir? Spielt es eine Rolle? Das Land existiert ohnedies seit viel längerer Zeit. Wie sollen wir uns Anfang und Ende der Erzählung vorstellen, die vom Land handelt und davon, wer wir sind?
– Yvette Mutumba

An dem Ort, an dem europäische und nordamerikanische Kontinentalplatte aufeinandertreffen, durchsticht die Silfra-Spalte den isländischen Nationalpark Þingvellir. Umgeben von vier aktiven Vulkanen, Hrómundartindur, Hengill, Prestahnjúkur und Hrafnabjörg, öffnet sich die kilometerlange Schlucht, genährt von klarem, aus Lavagestein sprudelnden Wasser. Beinahe 100 Meter reicht der Blick in den Strom hinein, der von grün und rotbraun schimmernden Algen durchzogen ist. Ein Touristenmagnet, aber auch ein mythologisch und historisch aufgeladener Ort, an dem um das Jahr 900 eines der ersten Parlamente der Welt tagte. Eine Spalte, eine klaffende Wunde, die jedes Jahr wenige Millimeter wächst, die ‚arbeitet‘ und das Gestein als lebendiges Geschöpf begreifen lässt. „Mountains are beings, if you pay attention“, bemerkte auch Etel Adnan in Bezug auf ihre eigene malerische Arbeit einmal. 

Als vitales Gegenüber finden Gebirge, aber auch Felder, Moore oder Seen regelmäßig Eingang in Lena Schmid-Tupous künstlerische Form- und Farbfindungen. Ihre Streifzüge und Wanderungen durch Island, Schweden, Norddeutschland und immer wieder Neuseeland, mit dem sie auch familiär verbunden ist, gleichen Expeditionen. Hier ‚liest‘ sie Linien, Silhouetten und auch Farbtöne auf, um sie anschließend – einige Sekunden oder auch Monate später – in Zeichnungen, Malereien und Skulpturen zu verarbeiten. Dabei hat sie über die Jahre ein ganz eigenes abstraktes, künstlerisches Vokabular mit Affinitäten zu wiederkehrenden Bildkörpern entwickelt, die zu immer neuen suggestiven Landschaften zusammenfinden. 

In ihrem Denken wie in ihrer Kunst unterscheidet Schmid-Tupou dabei kaum zwischen innerer und äußerer Natur. Wahrgenommenes und Imaginiertes verschwimmen. Vielmehr geht es um die Frage, welche „Formen und Farben im Körper nachschwingen“ (Schmid-Tupou) und im malerischen Prozess den jeweils zuvor gesetzten Linien und Farbfeldern folgen können. Oder, wie es Gaston Bachelard in der Poetik des Raumes formulierte: „Nehmen wir den Kontakt mit kürzeren Träumereien wieder auf, die durch das Detail der Dinge geweckt werden, durch Wesenszüge, die auf den ersten Blick unbedeutend erscheinen.“ Frei kombiniert Schmid-Tupou dabei unterschiedliche Bezüge: Die erinnerten Umrisse vorbeiziehender Felder schimmern in den Malereien vielleicht im Grünblau von Handydisplays. Und Lichtstrahlen, die aus dichten Baumkronen hervorblitzen, haben in ihrer Fixierung auf dem Malgrund womöglich das Violett und Rotbraun zweier parkender Autos angenommen.

Als ein „Ort, an dem sich die Kraft der Erde unmittelbar in ihrer Topologie, in ihren Ausstülpungen und Einkerbungen sowie in ihren Farbklängen“ (Schmid-Tupou) erkennen lässt, hat die Silfra-Spalte Schmid-Tupou dabei auch zu einer künstlerischen Mediation über Zeitlichkeit bewegt. Farbige Einsprenglinge, wie die so genannten Olivine, oder Einschlüsse aus Umgebungsgestein haben als sich berührende oder überlagernde Farbflächen ihren Weg in die gleichnamigen Malereien der Künstlerin gefunden. In der Form ‚materialisierter und geschichteter Zeit‘ erzählen sie ebenso von der Jahrhunderte währenden Entstehung der Felsen, wie von dem Augenblick ihrer Wahrnehmung sowie ihrer Einschreibung auf der Leinwand. 

Versuche abstrakte Vorstellungen von Zeit zu verbildlichen und Erinnerungen zu konservieren, prägen auch die neue kleinformatige Serie Memories. Im Stadtraum gefundene Ansichtskarten – für sich schon Memorabilien par excellence – wurden mit deckender Ölfarbe grundiert und mit schnellen Strichen um eingeritzte Zeichnungen ergänzt. Die angedeuteten ‚inneren Landschaften‘ der Künstlerin werden somit von den nur noch zu erahnenden Motiven der Karten als zweite Ebene unterlegt.

Das nur wenige Kilometer vom Þingvellir Nationalpark entfernte Gebiet der Landmannalaugar ist wiederum Ausgangspunkt einer Serie keramischer Arbeiten, die als Malereien im Raum gedacht sind. Fantastische Bergkuppen, die sich in beinahe familiären Konstellationen vertrauensvoll begegnen und an anderer Stelle solitär Platz für sich beanspruchen. Ihre wechselnden matten und glänzenden Glasuren eröffnen beim Umrunden immer neue Perspektiven und beziehen in Spiegelungen die Umgebung als integralen Bestandteil der Arbeit mit ein.   

Lena Schmid-Tupou teilt ihren Blick auf eine Welt, in der es meist hell ist, wo aber auch Unbekanntes, Schemenhaftes lauert. Eine Welt, von der wir nicht wissen, was wir finden werden, wo wir es finden werden und welche Auswirkungen es haben könnte, etwas zu finden. 

Nele Kaczmarek is the former curator of Kunstverein Braunschweig in Germany.

„Strong colors on large-format canvases, next to them smaller prints in black and white and shiny ceramics on the floor – the new exhibition „Silfra“ in the Municipal Gallery Eichenmüllerhaus in Lemgo certainly has charisma. Even when, unfortunately, only a virtual tour is possible at the moment.“

Freya Köhring,
Lippisches Kultur-Journal