Silfra

Silfra

Über Silfra

Text: Nele Kaczmarek

An dem Ort, an dem europäische und nordamerikanische Kontinentalplatte aufeinandertreffen, durchsticht die Silfra-Spalte den isländischen Nationalpark Þingvellir. Umgeben von vier aktiven Vulkanen, Hrómundartindur, Hengill, Prestahnjúkur und Hrafnabjörg, öffnet sich die kilometerlange Schlucht, genährt von klarem, aus Lavagestein sprudelnden Wasser. Beinahe 100 Meter reicht der Blick in den Strom hinein, der von grün und rotbraun schimmernden Algen durchzogen ist.

Ein Touristenmagnet, aber auch ein mythologisch und historisch aufgeladener Ort, an dem um das Jahr 900 eines der ersten Parlamente der Welt tagte. Eine Spalte, eine klaffende Wunde, die jedes Jahr wenige Millimeter wächst, die ‚arbeitet‘ und das Gestein als lebendiges Geschöpf begreifen lässt.

„Mountains are beings, if you pay attention“, bemerkte auch Etel Adnan in Bezug auf ihre eigene malerische Arbeit einmal. Als vitales Gegenüber finden Gebirge, aber auch Felder, Moore oder Seen regelmäßig Eingang in Lena Schmid-Tupous künstlerische Form- und Farbfindungen. Ihre Streifzüge und Wanderungen durch Island, Schweden, Norddeutschland und immer wieder Neuseeland, mit dem sie auch familiär verbunden ist, gleichen Expeditionen. Hier ‚liest‘ sie Linien, Silhouetten und auch Farbtöne auf, um sie anschließend – einige Sekunden oder auch Monate später – in Zeichnungen, Malereien und Skulpturen zu verarbeiten. Dabei hat sie über die Jahre ein ganz eigenes abstraktes, künstlerisches Vokabular mit Affinitäten zu wiederkehrenden Bildkörpern entwickelt, die zu immer neuen suggestiven Landschaften zusammenfinden.

In ihrem Denken wie in ihrer Kunst unterscheidet Schmid-Tupou dabei kaum zwischen innerer und äußerer Natur. Wahrgenommenes und Imaginiertes verschwimmen. Vielmehr geht es um die Frage, welche „Formen und Farben im Körper nachschwingen“ (Schmid-Tupou) und im malerischen Prozess den jeweils zuvor gesetzten Linien und Farbfeldern folgen können. Oder, wie es Gaston Bachelard in der Poetik des Raumes formulierte: „Nehmen wir den Kontakt mit kürzeren Träumereien wieder auf, die durch das Detail der Dinge geweckt werden, durch Wesenszüge, die auf den ersten Blick unbedeutend erscheinen.“ Frei kombiniert Schmid-Tupou dabei unterschiedliche Bezüge: Die erinnerten Umrisse vorbeiziehender Felder schimmern in den Malereien vielleicht im Grünblau von Handydisplays. Und Lichtstrahlen, die aus dichten Baumkronen hervorblitzen, haben in ihrer Fixierung auf dem Malgrund womöglich das Violett und Rotbraun zweier parkender Autos angenommen.

Als ein „Ort, an dem sich die Kraft der Erde unmittelbar in ihrer Topologie, in ihren Ausstülpungen und Einkerbungen sowie in ihren Farbklängen“ (Schmid-Tupou) erkennen lässt, hat die Silfra-Spalte Schmid-Tupou dabei auch zu einer künstlerischen Mediation über Zeitlichkeit bewegt. Farbige Einsprenglinge, wie die so genannten Olivine, oder Einschlüsse aus Umgebungsgestein haben als sich berührende oder überlagernde Farbflächen ihren Weg in die gleichnamigen Malereien der Künstlerin gefunden. In der Form ‚materialisierter und geschichteter Zeit‘ erzählen sie ebenso von der Jahrhunderte währenden Entstehung der Felsen, wie von dem Augenblick ihrer Wahrnehmung sowie ihrer Einschreibung auf der Leinwand.

– Nele Kaczmarek war Kuratorin am Kunstverein Braunschweig.

Silfra Nr. 1 • 2020 • 250×220 cm • Öl auf Leinwand
Silfra Nr. 2 • 2020 • 250×220 cm • Öl auf Leinwand
Silfra Nr. 3 • 2020 • 250×220 cm • Öl auf Leinwand
Silfra Nr. 4 • 2020 • 250×220 cm • Öl auf Leinwand
Silfra Nr. 5 • 2020 • 250×220 cm • Öl auf Leinwand
Silfra Nr. 6 • 2020 • 170×165 cm • Öl auf Leinwand
Silfra Nr. 7 • 2020 • 250×200 cm • Öl auf Leinwand
Silfra Nr. 8 • 2020 • 180×130 cm • Öl auf Leinwand
Silfra Nr. 9 • 2020 • 140×120 cm • Öl auf Leinwand